Antwort
Ihre Frage nach der Durchgriffshaftung führt zum Kern des Kapitalgesellschaftsrechts: Die Anerkennung der juristischen Person, ihre Trennung von den Gesellschaftern und die Trennung ihres Vermögens vom Vermögen der Gesellschafter. Die Anerkennung der GmbH/UG als juristische Person und die Erlangung der Haftungsbeschränkung durch das „Opfer“ der Stammkapitalaufbringung sind die zentrale juristische Idee von der Verselbständigung der Kapitalgesellschaft weg von ihren Gesellschaftern. Aus diesem Grunde haften - anders als bei der Personengesellschaft - die Gesellschafter einer GmbH/UG für die Verbindlichkeiten der GmbH/UG, an der sie beteiligt sind, nicht.
Von diesem Grundsatz gibt es eine von der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme: die Vermögensvermischung. Achtet der Gesellschafter nicht darauf, dass das GmbH/UG-Vermögen für ihn fremdes Vermögen ist, und wirft dieses und sein eigenes Vermögen in einen Topf, so dass die Kapitalflüsse hin und her nicht mehr nachvollziehbar sind, kann er sich nicht mehr darauf berufen, dass für die Verbindlichkeiten der GmbH/UG nur diese haftet. Die Schwelle, ab der eine solche Haftung angenommen wird, ist vergleichsweise hoch. Das führt nicht dazu, dass Gesellschafter das ihnen fremde Vermögen der Kapitalgesellschaft nicht achten müssen, sondern vielmehr dazu, dass die Gesellschafter bei niedrigerer Schwelle ihrer Fehlhandlung auf anderer Rechtsgrundlage als der „Durchgriffshaftung“ der Gesellschaft überentnommene Leistungen zurückerstatten müssen (z.B. §§ 31, 30 GmbHG).
In der Rechtsprechung und Literatur wird ein weiterer Fall der Durchgriffshaftung diskutiert: materielle Unterkapitalisierung. Der Tatbestand lässt sich grob so umschreiben, dass eine GmbH/UG für den von ihr angestrebten geschäftlichen Betrieb von vornherein und ganz offensichtlich nicht mit dem erforderlichen Eigenkapital ausgestattet wird, so dass der Geschäftsbetrieb von vornherein als auf Kosten Dritter angelegt erscheint. Teile der Literatur begründen eine solche Haftung mit Rechtsnormen des Gesellschaftsrechts, die Rechtsprechung hingegen gründet die Haftung auf „Delikt“, genauer auf vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB. Die Schwelle auch hierfür ist hoch und die Haftung liegt in einer (vorsätzlichen sittenwidrigen) Handlung des konkret vom Gläubiger in Anspruch genommenen Gesellschafters oder Geschäftsführers.
Man muss sich folgendes klarmachen: Mit der Zulassung einer Kapitalgesellschaft und der damit verbundenen Haftungsbeschränkung hat der Gesetzgeber die Externalisierung unternehmerischer Risiken grundsätzlich zugelassen. Die Verwirklichung eines solchen Risikos führt nicht für sich schon zur Durchgriffshaftung, weil damit die Idee der Kapitalgesellschaft schon aufgegeben wäre. Es müssen also weitere Tatbestände hinzutreten, um eine Eigenhaftung der Gesellschafter annehmen zu können. Diese Tatbestände müssen so erheblich sein, dass die Sozialadäquanz der Zulassung einer Kapitalgesellschaft mit Haftungsbeschränkung im konkreten Fall in Frage steht. Aus diesem Grund ist es in Ordnung, dass die Rechtsprechung hohe Anforderungen daran stellt, ab wann ein Gesellschafter selbst haftet. Aber: Die seit 2008 mögliche Gründung einer Kapitalgesellschaft mit einem Eigenkapital von weniger als 25.000 Euro, genau genommen mit einem Stammkapital ab einem Euro, stellt die Gründer dennoch vor die Frage einer adäquaten Kapitalausstattung für den von ihnen angestrebten Geschäftsbetrieb. Gründet man eine UG mit einem Stammkapital von einem Euro, kauft davon eine Briefmarke und versendet den Brief, ist das Stammkapital beinahe schon aufgebraucht. Allein diese Überlegung führt dazu, dass in der Gründungsphase ein belastbarer Businessplan erstellt wird, aus dem sich die Kapitalaustattung ableitet. Liegt ein solcher vor und ist dieser auf eine realistische Grundlage gestellt, kann ich mir eine Haftung aus § 826 BGB wegen materieller Unterkapitalisierung nicht vorstellen. Bei solcher Planung entfallen die Überlegungen der Zwischenschaltung einer Holding - genau genommen kann man das für die Holding erforderliche Kapital gleich in die zu gründende Gesellschaft geben. Eine Holding ist sinnvoll allenfalls zur Verlagerung einer etwaigen Konzernhaftung.
Quelle: Volker Heinze
Notar
Mitglied der Notarkammer Sachsen
Juli 2019
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